Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:
1.) Die Stadtverordnetenversammlung bekräftigt den Beschluss vom 20.5.2016 zur sofortigen Aufnahme von 200 Geflüchteten aus Flüchtlingslagern und bekennt sich zu dem humanitären Gebot, Menschen in Not Schutz zu gewähren und kritisiert die Verschärfung des Grundrechts auf Asyl sowie die zunehmende Abschottungspolitik in Deutschland und Europa.
2.) Die Stadtverordnetenversammlung appelliert an die Bundesregierung, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag umzusetzen und der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in dieser Form nicht zu zustimmen.
Die Bundesregierung wird aufgefordert sich weiterhin für:
I. menschenwürdige und faire Asylverfahren einzusetzen und keine verpflichtenden Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen durchzuführen!
II. Den Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union ernstzunehmen und keine Absenkung der Anforderungen an “sichere Drittstaaten vorzunehmen”!
III. Das Dublin-System abzuschaffen und das Recht auf Asyl auszuweiten.
3.) Die Stadt Marburg als Teil der Initiative „Städte Sicherer Häfen“ bekräftigt den Beschluss der Potsdamer Erklärung. In der u.a. folgendes ausgeführt wird:
„Wir „Städte Sicherer Häfen“ fordern von der Bundesregierung und dem Bundesinnenminister die Einrichtung eines an den rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichteten Verteilungsschlüssels für die aus Seenot geretteten Schutzsuchenden. Wir fordern zu diesem Zweck eine Bund-Länder-Vereinbarung im Sinne einer direkten Aufnahme von aus Seenot Geretteten von Bord in die aufnahmewilligen Kommunen und Gemeinden. Die Verteilung soll neben dem Königsteiner Schlüssel durch einen zu vereinbarenden zusätzlichen Schlüssel geregelt werden.“
4.) Die Stadtverordnetenversammlung Marburg setzt sich insbesondere gegenüber dem Land Hessen und der Bundesrepublik Deutschland dafür ein, dass rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit deren Hilfe es aufnahmebereiten Kommunen ermöglicht wird, Menschen auf der Flucht über die Verteilungsquote hinaus selbstbestimmt aufzunehmen.
5.) Die Stadt Marburg erklärt sich bereit, in Not und Seenot geratene Menschen auf der Flucht aufzunehmen und ihnen Schutz zu gewähren.
6.) Die Stadtverordnetenversammlung bekräftigt ihren Dank an die ehrenamtlichen Helfer:innen sowie den Kolleg:innen in der Stadtverwaltung, die mit ihrem täglichen Einsatz wesentlich mit dazu beitragen, dass die Situation der geflohenen Menschen in Marburg erträglich gestaltet wird.
Begründung:
Die Stadt Marburg hat eine lange Tradition in der Integration von zugewanderten Menschen und lebt Vielfalt und Integration. Gemeinsam mit vielen Ehrenamtlichen und den Vereinen und Verbänden möchte sie geflüchteten Menschen eine Perspektive geben, damit diese sich einleben und integrieren können. Die Stadtverordnetenversammlung unterstützt die Initiative „200 nach Marburg“ und ist Teil des Netzwerkes „Cities Safe Harbours Alliance“ (Städte Sicherer Hafen)
Der Oberbürgermeister hat in 2021 gemeinsam mit anderen Stadtoberhäuptern eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in denen europäische Institutionen und nationale Regierungen aufgefordert werden, den Städten in Europa neue Wege zu eröffnen, um sich ohne weitere Verzögerung aktiv in die Unterbringung von Geflüchteten und deren Integration einbringen zu können. In dieser Erklärung heißt es u.a.
„Die Europäischen Migrationspolitik steckt seit Jahren in einer Sackgasse. Gefangen zwischen der rückwärtsgewandten, von nationalstaatlichen Interessen geprägten Diskussion über Verteilquoten und der idealistischen Zukunftsvision eines Europas ohne Grenzen, verheddert im Streit zwischen maximal Wünschenswertem und kleinstem gemeinsamen Nenner. In der europäischen Asyl- und Migrationspolitik ist es deshalb heute wichtiger denn je, statt eines zwischen(national)staatlichen einen gesamteuropäisch-gesellschaftlichen Konsens zu finden. Deshalb setzen wir dieser scheinbar ausweglosen Situation, in dem das Schicksal von Menschen auf der Flucht und indem unsere Werte zum Spielball zu werden drohen, unseren moralischen Pragmatismus entgegen. Wir sind Städte, die sich gemeinsam zu einer demokratisch durch ihre Stadtgesellschaften legitimierten und damit verbindlichen und geregelten Form der Aufnahme von Menschen auf der Flucht bekennen, und ihnen damit die Chance für eine Integration in unser gemeinsames Europa bieten. Die Integration in unsere Stadtgesellschaften erfordert dabei einen Pragmatismus, der das Machbare in den Mittelpunkt des Handelns rückt. Wir setzen deshalb auf die Idee eines Netzwerkes von Städten in Europa. Statt der Konzentration der Last durch Hotspots und Lager, die sich auf wenige Städte entlang des Mittelmeers kapriziert, setzen wir auf eine breite Verteilung auf viele Städte, die die Belastung für die einzelne Stadt durch die Kraft eines breit getragenen Bündnisses verteilt. Den geltenden Verteilungsschlüssel als alleinige Grundlage in Europa wollen wir durch ein breites Netz von vielen freiwilligen kommunalen Aufnahmekontingenten ergänzen.“
Folgerichtig wäre es also, wenn die Stadtverordnetenversammlung sich gegen die europäische GEAS-Reform ausspricht:
Denn Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Migrationsforscher:innen, Jurist:innen und Selbstorganisationen von Geflüchteten kritisieren die Pläne von EU-Kommission und Mitgliedsstaaten sowie die schon etablierten Praktiken seit vielen Jahren. In unzähligen Appellen, Stellungnahmen und Studien weisen sie darauf hin, dass die menschenrechtliche Situation an den europäischen Außengrenzen noch verheerender werden würde, wenn Grenzverfahren, Drittstaatenregelungen und die Inhaftierung von Schutzsuchenden in geschlossenen Lagern im EU-Recht verankert werden.
Jetzt eine schlechte GEAS-Reform zu verabschieden würde nur die fortwährenden Rechtsbrüche an den europäischen Außengrenzen legalisieren und die menschenrechtliche Lage weiter verschlimmern. Es gilt daher, wie der Rat der Migration schreibt: „Besser keine Reform als diese.“
Dort, wo die Bundespolitik ihrer Verantwortung nicht gerecht wird, muss die kommunale Politik tätig werden. Kommunen können sich für ein sicheres Ankommen und neue rechtliche Rahmen einsetzen. Der Sichere Hafen ist dabei ein Prozess, den bereits 267 deutsche Städte, Landkreise und Gemeinden begonnen haben und dem die Stadt Marburg beigetreten ist.
Die eigenständige Aufnahme durch die Länder (und in deren Folge durch die Kommunen) konzentriert sich bislang vor allem auf 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz. Diese Vorschrift lässt Ausnahmen aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen zu. Sie setzt jedoch das Einvernehmen des Bundesministeriums des Inneren voraus. Die Debatte wurde schon seit geraumer Zeit ohne Ergebnis geführt – und mit Verweis auf eine „europäische Lösung“ auch verschleppt. Eine Änderung des § 23 Abs. 1 AufenthG ist daher geboten. Sie sollte die Aufnahme in das Ermessen der aufnahmewilligen Kommune stellen – und die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel durch Bund und Länder bereitstellen.
Durch die Erklärung zum Sicheren Hafen unterstützt die Stadt Marburg diese Forderung ebenfalls. Sie gibt ihr ein weiteres zusätzliches Gewicht. Je mehr Kommunen dies tun, desto stärker wird der politische Druck auf die deutsche Bundespolitik.
Es muss schnell gehandelt werden. Die Lage an den sogenannten Außengrenzen der Europäischen Union kostet fast täglich Menschenleben: ob im Mittelmeer, im Atlantik, im Ärmelkanal oder an den Grenzen von Polen und Kroatien. Eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind, ist aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen geboten.
Länder wie Griechenland dürfen mit dem Problem nicht allein gelassen werden – zumal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Entscheidung vom 16.04.2020, Nr. 166080/20) sowie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss vom 07.10.2019 – 2BvR 721/19 mit weiteren Nachweisen) menschenunwürdige Zustände in griechischen Lagern festgestellt hat.
Eine noch schlimmere Situation wie in Griechenland besteht in Libyen. Hier sorgt eine Vereinbarung der EU mit Libyen und seiner korrupten Küstenwache, Geflüchtete gegen Bezahlung wieder zurückzuführen, für verheerende Zustände. In Libyen werden, nach der langjährigen Pressesprecherin des UNHCR Šunjić, die „aufgegriffenen Bootsflüchtlinge wieder in die überfüllten, von Hunger, Krankheit, Folter und Vergewaltigung geprägten Internierungslager gesteckt – ihr zufolge „ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte“. Außerdem gibt sie an, dass 60 Menschen pro Monat laut einer Studie des UNHCR von 2020 ermordet wurden oder zu geringeren Anteilen durch Krankheiten oder Unfälle ums Leben gekommen sind. Sie fährt fort, dass die korrupte libysche Küstenwache ein doppeltes Spiel spiele. Sie verdiene an den europäischen Zuwendungen, agiert aber auch beim Menschenschmuggel mit. Auf diese Weise bezahlt die EU mit ihrer Vereinbarung die Profiteure und unterstützt genau das Phänomen, das eigentlich bekämpft werden soll. Das muss beendet werden!
Eine Aufnahme der Menschen wirkt, gepaart mit der Einrichtung sicherer Fluchtwege, sowohl den beschriebenen Zuständen als auch dem Ertrinken im Mittelmeer entgegen. Die Seenotrettung leistet hier einen wertvollen Beitrag.
Derzeit findet in den Gremien der EU eine weitere Debatte zur Aushöhlung des Rechts auf Asyl in noch nie dagewesener Weise statt. Sollte der Kompromissvorschlag die Zustimmung des Europaparlaments finden, dann führt dies im Ergebnis zum faktischen Ausschluss der Einreise von Flüchtenden Menschen in die gesamt EU! Dies wäre auch eine Abkehr von der Genfer-Flüchtlingskonvention! Durch die aufnahmebereiten Kommunen muss deshalb jetzt politischer Druck aufgebaut werden, damit jenseits der angedachten europäischen Lösung ein rechtlicher Rahmen hergestellt wird, der es möglich macht, über eine Verteilung der Geflüchteten Menschenleben zu retten. Es geht um Leben und Tod – und das jeden Tag mehr!
Die Stadt Marburg muss sich hier klar gegen den Versuch der Aushöhlung der europäischen humanistischen Grundwerte und nicht zuletzt gegen eine Aushöhlung des ersten Artikels unseres Grundgesetzes stellen.
Als Teil des Bündnisses „Sichere Häfen“ muss sie sich weiterhin für eine menschenrechtskonforme europäische Migrationspolitik und ein Ende der Abschottungspolitik einsetzen. Die Stadt Marburg muss sich auch gegen Abschiebungen durch unmenschliche und grundgesetzwidrige Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen positionieren und weiterhin gegen die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer eintreten.
Tanja Bauder-Wöhr, Roland Böhm, Anja Kerstin Meier-Lercher, Inge Sturm