Bericht: Stadtverordnetenversammlung (StVV) vom 11.10.2024

Grundrecht auf Asyl verteidigen – konkrete Ausgestaltung vor Ort.

Während die StVV tagte, fand parallel eine Demonstration in Marburg unter dem Motto „Zusammenhalt statt Hetze – Grundrechte verteidigen!“ statt. Konkret ging es um die Verteidigung des Grundrechts auf Asyl. Dieses Thema spielte in der StVV ebenfalls eine zentrale Rolle, denn auch in Marburg werden Geflüchtete untergebracht. Dazu haben wir einen Antrag eingebracht, in dem es uns um die konkrete Ausgestaltung geht. Unsere Fraktionsvorsitzende Tanja Bauder-Wöhr verdeutlichte unser Anliegen und unterstrich worauf was es ankomme: „Nachdem die Stadt Marburg ihr bewährtes Ziel der dezentralen Unterbringung von Geflüchteten zumindest teilweise aufgibt, ist es besonders wichtig ein konzeptionelles Vorgehen zu erarbeiten. Es bedarf einer pädagogischen Begleitung, sowie Dolmetscher vor Ort. Gleichzeitig müssen Räume zum Schutz der Privatsphäre und zum Rückzug geschaffen werden. Außerdem werden Gemeinschaftsräume im Innen- wie im Außenbereich benötigt. Darüber hinaus braucht es Begegnungsstätten aller im Ort lebender Menschen, unter Einbeziehung der bereits vorhandenen Angebote, meist durch großes Engagement der Vereine getragen, sowie einen Ausbau der Busverbindungen von und nach Marburg.“ Die ungekürzte Rede kann hier nachgelesen werden:  https://marburger-linke.de/ 

Erstaunlicherweise wurde unser Anliegen in breiter Mehrheit abgelehnt, allerdings auch weil innerhalb von vier Wochen zu unserem ursprünglich dringlichen Antrag von Seiten des Magistrats nachgearbeitet wurde. Mittlerweile ist klar, dass pädagogisches Fachpersonal und Dolmetscher eingesetzt werden. Auch Gemeinschaftsräume, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, sollen jetzt verwirklicht werden. Außerdem soll der zuständigen Dezernentin Kirsten Dinnebier größtmöglichen Verhandlungsspielraum mit dem Eigentümer zugesichert werden. Bleibt festzuhalten: Hätte man die Immobilie selbst erworben bräuchte es keinen Freifahrtschein und darüber hinaus ist der Erwerb einer Immobilie durch die Stadt eine nachhaltige Investition für ihre Bürger.

Einbringung des Haushalts 2025 und Debatte zum Nachtragshaushalt 2024

Der OB und Kämmerer Dr. Thomas Spies stellt seinen kommenden Haushalt 2025 vor und betont, Marburg sei eine wohlhabende Stadt und man nähere sich jetzt wieder den „normalen“ Steuereinnahmen vergangener Jahre – ohne Rekordgewinne – an. Sichtlich erleichtert, kündigte er an, dass es eine Änderung des Nivellierungshebesatzes durch die hessische Landesregierung auf empfohlene 380 geben soll. Erleichtert, weil ihm das einen „Bettelgang“ zu Biontech erspart. Denn nun kann auf die Zuständigkeit Hessens verwiesen werden, warum der Gewerbesteuerhebesatz hoffentlich angepasst wird. Er verspricht wenig Veränderung dafür Verlässlichkeit, insbesondere bei den freiwilligen Leistungen. Zum Nachtragshaushalt fand ebenfalls eine Debatte statt. Während die bürgerliche Opposition vor allem die Diskrepanz von veranschlagten Ausgaben und tatsächlichen Ausgaben – nämlich deutlich weniger als vorgenommen – kritisiert, erklärt die regierende Koalition es gäbe keine Einsparungen bei Kindern und Jugendlichen, bei Bildung und Klima. Hingegen betonte Tanja Bauder-Wöhr, man könne dem Grundanliegen des Nachtragshaushaltes folgen, erkenne auch an, dass es keine Einsparungen im sozialen Bereich geben solle, erinnerte aber klar an die verschenkten Einnahmen durch die Absenkung des Gewerbesteuerhebesatzes der letzten Jahre. Zudem verwies sie auf die Einsparungen im Bundes- und Landeshaushaltes, was auf jeden Fall Auswirkungen auf Marburg haben wird. Deshalb bedarf es einer grundlegend anderen Steuerpolitik, auch um Kommunen untereinander nicht gegeneinander auszuspielen.

Mietpreisüberhöhung anzeigen – ein Instrument für bezahlbares Wohnen

Bereits im vergangenen Jahr beantragte unsere Fraktion alle Möglichkeiten der Stadt auszuschöpfen, um gegen überteuerte Mieten vorzugehen. Für dieses wichtige Ansinnen ist ein gesetzlich vorgeschriebener qualifizierter Mitspiegel eine Grundvoraussetzung. Seit September liegt dieser vor und unser Antrag konnte endlich in die Beratung gehen. Obwohl allenthalben vom Kampf gegen überteuerte Mieten die Rede ist, man gewillt sei jedes Instrument zu nutzen, ist die Mehrheit der Stadtverordneten unserem Antrag nicht gefolgt. Für uns führte Roland Böhm aus: „Der nun vorliegende qualifizierte Mietspiegel ist aufgrund seiner gesetzlichen Konstruktion etwas, das Mieter:innen benachteiligt, weil er tendenziell zu hohe Mieten ausweist. Er berücksichtigt nur Mietverträge, die in den letzten 6 Jahren abgeschlossen wurden, keine – sehr oft – preiswerten Altverträge; ebenso bleiben preisgebundene Sozialwohnungen außen vor. Auch die Fortschreibung im 2-jährigen Rhythmus, die ebenfalls immer auf die dann letzten 6 Jahre rekurriert, führt zu höheren Mieten.“ Roland Böhm stellte zudem fest, „dass die Stadt zwar nicht die Gesetze erlässt, dennoch könnte sie einiges tun, um die Anstiegstendenz zu bremsen. Sie könnte z. B. auf die eigene Wohnbaugesellschaft (GeWoBau) dahigehend einwirken, bei Neuvermietung nicht mehr preisgebundener Wohnungen auf Mieterhöhungen zu verzichten. Oder, wie im Antrag gefordert, eine intensive Informationskampagne für die Mieter:innen zu starten.“ Außer uns und der Fraktion Die Linke, dessen Stadtverordneter Jan Schalauske maßgeblich den Antrag initiierte, wurde diese Chance vertan und mehrheitlich abgelehnt. Wir sind allerdings zuversichtlich, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. 

Wer nicht für ausreichend bezahlbaren Wohnraum sorgt, darf sich über Obdachlosigkeit nicht wundern und schon gar nicht darf er Menschen die in Zelten leben vertreiben!

Obdachlosigkeit – keine Vertreibung und Räumung

Aufmerksam geworden, durch einen Hinweis im unmittelbaren Umfeld der sozialen Arbeit in Marburg und einer drohenden Räumung von Zelten, die wohnungslosen Menschen als Schutz und Unterkunft dienen, suchte eine Delegation der MarburgerLinken & PIRATEN sowie der Kreistagsfraktion die Linke die Betroffenen auf und führte mit ihnen Gespräche. Darüber hinaus brachte die Fraktion einen Antrag ein, der unmittelbar zu Verbesserungen führen sollte. Zwischenzeitlich hat die Stadt leider Fakten geschaffen und die Auflösung der Zeltunterkünfte veranlasst. Wir legen die Finger so lange in die Wunde, bis gehandelt wird. Wir fordern für die Betroffen u.a. einen Wärme-Bus, eine konkrete Vorhabenliste wann die längst überfälligen Vorhaben, wie der Neubau für Wohnungslose oder ein Vinzi-Dorf angegangen werden. Denn Vertreibung und Verdrängung von Obdachlosen, weil sie nicht ins schicke Stadtbild passen, findet in Deutschland schon viel zu lange statt. In Marburg wollte man eigentlich bisher einen anderen Weg gehe – jetzt scheinbar nicht mehr. Oder wie darf man die geäußerten Ängste der Bewohner des „Zeltdorfes“ in Marburg anders interpretieren, wenn sie merklich vor Polizeiautos zusammenzucken und eine „Räumung“ und somit Verdrängung befürchten. Dabei steigen Räumungsklagen in Marburg, während gleichzeitig die zur Verfügung gestellten Unterkünfte für Wohnungslose aus allen Nähten platzen: Der Spatenstich für das Vinzi-Dorf verschiebt sich derweil ins Jahr 2026.

Eine Stadt wie Marburg, die in den letzten Jahren von den enormen Gewinnen des Pharmastandorts profitierte, sich diese Gewinne auch in einem Anlagefond über etwa 340 Mio. € leistet, sollte eigentlich in der Lage sein, auch etwas für die Ärmsten zu investieren und sie nicht auch noch vertreiben.

Es stellt sich die Frage: Warum war es vor wenigen Monaten noch möglich, für ca.40 Mio € ein Verwaltungsgebäude zu erwerben, während gleichzeitig dieser „Wumms“ bei den Unterkünften für Obdachlosigkeit ausbleibt. Seit Jahren wird über einen Neubau geredet, dieses Diskussionsstadium dann aber nicht überwunden.

Es ist Zeit zu handeln, nicht für Lippenbekenntnisse!

Transformation – Digitalisierung nicht weiter verschlafen 

Unser Piratenpartei-Stadtverordneter Dr. Michael Weber setzt sich schon seit langem intensiv mit konkreten Verbesserungenvorschlägen für Marburg auseinander, vor allem um verkehrs- und umweltpolitische Anliegen durch sinnvolle elektronische Datenerfassung voranzutreiben und hat zu diesem Themen auch in der Vergangenheit schon allerhand Anträge in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht.

In diesem Monat hatten wir – basierend auf der von Rechenkraft.net e.V. unter Federführung unseres Stadtverordneten schon im Jahr 2019 aufgebauten, Marburg-weiten LoRaWAN-Sensordaten-Funkinfrastruktur (https://www.thethingsnetwork.org/community/marburg/) – eine dauerhafte Fahrzeugzählung zur kontinuierlichen Erfassung der Marburger Verkehrsströme beantragt. Ziel war eine modernere Verkehrsplanung (Stichwort: Behringwerke/Görzhäuser Hof, Stadtautobahnradau, Umleitungen bei Umbauarbeiten, MoVe35) und die Akquise harter Zahlen auch im Zusammenhang mit der B3a-Nutzung, um dem Land gegenüber verbesserte Argumentationslinien zur bislang stets erfolglos beantragten Geschwindigkeits- (und damit Lärm-) Reduktion liefern zu können. Der Antrag wurde von uns allerdings auf Bitten des Oberbürgermeisters auf November zurückgestellt, da die Stadt im Mobilitätsausschuss zunächst einen Bericht zu ihrem eigenen, fünf Jahre später aufgebauten LoRaWAN-Netz präsentieren wollte. Dieser Bericht wurde dann auch kooperativ durch einen Vertreter der Stadt und einen der Marburger Stadtwerke gehalten und skizzierte kurz drei innerstädtische Anwendungsbeispiele in den Bereichen Monitoringsysteme zur Baumbewässerung, Fernauslesung von Wärmemengen und Überwachung von Parkierungsanlagen – die sich allesamt noch im Testbetrieb befinden, aber teilweise immerhin bereits im Marburger BürgerGIS integriert sind (https://webmap.marburg.de/MarburgWebMap/online/?lon&lon=8.760308642863057&lat=50.804426960180706&zoom=15&select=false). Trotz der Kürze dieser Vorstellung stellt unser Stadtverordneter Dr. Michael Weber hierzu fest, dass dieser Bericht seit nun fast 15 Jahren Stadtverordnetentätigkeit das erste Beispiel sei, bei dem er in Marburg zumindest einen leichten ersten Anflug von Fortschritt in Sachen Digitalisierung wittern konnte. Bislang hat sich in diesem Bereich in Marburg ansonsten ja seit 2009 de facto nahezu nichts verbessert.

In einem zweiten Antrag deckten wir ein Problem auf dem Weg der Datenübermittlung von den Stadtwerken in die öffentlichen ÖPNV-Apps (RMV, DyFIS® Talk und Öffi) auf, lieferten im Verlauf der Ausschussberatung konkrete Problembeispiele (u.a. fehlerhaft integrierte Ferienfahrpläne, nicht zeitnah gemeldete Fahrplanänderungen im Fall von Streckendefekten/Umbausperrungen) und regten an, die genaue Ursache festzustellen, um das Problem zu beheben. Leider erwies sich die Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung als beratungsresistent und beschloss, der Angelegenheit in der – aus unserer Sicht vorschnellen – Annahme nicht weiter auf den Grund zu gehen, der RMV sei der Verursacher. Und so werden wohl auch in Zukunft Menschen vergeblich an Marburger ÖPNV-Bushaltestellen auf ihr Verkehrsmittel warten…

Tanja Bauder-Wöhr, Roland Böhm, Anja Kerstin Meier-Lercher, Inge Sturm, Dr. Michael Weber.

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